Home / Test & Technik  / Einzeltests  / Harley LiveWire: Der Reichweiten-Check

Harley LiveWire: Der Reichweiten-Check

Endlich konnten wir die neue Harley-Davidson LiveWire in unseren heimischen Gefilden fahren. In Mundart auf den Punkt gebracht: «Das Ding fägt!» Auf ihr wird man eins mit der Strasse! Und die Reichweite passt…

 

Unsere Begeisterung für die erste elektrisch betriebene Harley-Davidson ist ungebrochen. Bereits im Rahmen der internationalen Vorstellung in Portland (Oregon, USA) im letzten Jahr haben wir die 36’500 Franken teure LiveWire als reinrassige Fahrmaschine gerühmt. Jetzt klären wir auch die Fragen nach der Reichweite und der Alltagstauglichkeit.

 

Akku leer fahren

Unser Ziel: Den Akku leer fahren, bis nichts mehr geht – notfalls schieben wir das Bike zu einer Steckdose. Schliesslich ist es eine der leichtesten Maschinen aus Milwaukee. Nur die 750er-Modelle schlagen mit ihren rund 235 die 249 Kilo der LiveWire noch. 100 Prozent Akku-Ladung und 163 Kilometer Reichweite zeigt der gut ablesbare und übersichtliche TFT-Touchscreen zu Testbeginn an. Das klingt sehr vielversprechend und ausreichend für die morgendliche Fahrt zum Büro in die Stadt und die abendliche Rückkehr mit einem gewissen Umweg. Doch stimmt die Angabe, und was passiert eigentlich, wenn der Akku wirklich auf einmal leer ist? Gibt es eine Vorwarnung, oder bleibt man irgendwann einfach stehen?

 

 

«Twist and go»

Die Kombination aus hervorragender Balance und minimalem menschlichem Eingriff (man muss nur Gas geben und bremsen, aber weder kuppeln noch schalten) machen die LiveWire zu einem ultrahandlichen, unkomplizierten Töff, was nicht zuletzt im Stop-and-go ein Trumpf ist. «Twist and go» nennen die Harley-Verantwortlichen die Einfachheit ihrer neuen Elektromobilität – «Gas geben und losfahren». Das Beste: Was in der Stadt taugt, glänzt auf der offenen Landstrasse erst recht!

 

«Grün», und weg bist du!

Wenn ab dem Stillstand und auch danach über den gesamten Drehzahlbereich immerzu das maximale Drehmoment von 117 Nm anliegt, dann vermisst man garantiert keine Sekunde ein konventionelles Schaltgetriebe und auch keinen Quickshifter. Wohlgemerkt: Wir sprechen hier vom Gebrauch auf der Strasse und nicht am absoluten Limit auf der Rennstrecke. Im Hier und Jetzt vor der Haustüre ist die LiveWire wirklich immer bereit für einen Sprint, sei es bei der passenden Überholgelegenheit oder beim Start an der Ampel: «Grün», und weg bist du!

 

 

Umfassendes Elektronikpaket

Wer das Gas beherzt aufreisst, muss sich wirklich festhalten! Darum bekam die LiveWire als erste Harley überhaupt ein umfassendes elektronisches Assistenzpaket namens RDRS (Reflex Defensive Rider System). Es umfasst ein Kurven-ABS mit Überschlagvermeidung, eine kurvenoptimierte (deaktivierbare) Traktionskontrolle mit Wheelie-Erkennung und eine Antriebschlupfregelung. Ausserdem werden diese elektronischen Systeme wie auch die Motoransprache und die Leistungsabgabe von drei individuell definierbaren bzw. vier vorprogrammierten Modi (Sport, Strasse, Regen und Reichweite) beeinflusst.

 

Straff und flink

So viel Power verlangt natürlich nach darauf abgestimmten Fahrwerkskomponenten und Bremsen. Auch die bietet die LiveWire. Vorder- wie Hinterrad werden von voll einstellbaren Showa-Federelementen zuverlässig am Boden gehalten. Die durchaus straffe Grundabstimmung passt in unseren Augen ganz gut und lässt die LiveWire nicht nur zielgenau durch schnellere, weite Radien gleiten, sondern auch im flinken Kurvengewühl agil auftreten. Dies unterstützt ferner die respektable Schräglagenfreiheit, die mit der anderer Naked-Bikes vergleichbar ist.

 

 

Definitiv ein Roadster

Apropos: Die Füsse ruhen so weit hinten wie auf keiner anderen Harley. Dennoch ist der Kniewinkel nicht zu eng geraten. Auch die übrige Ergonomie finden wir gelungen. Mit leicht nach vorn geneigtem Oberkörper wähnt man sich auf einem reinrassigen Roadster und keinesfalls auf einem Cruiser oder gar Chopper, auch wenn die Optik sehr gekonnt die Verwandtschaft zu den konventionellen Harley-Modellen unterstreicht.

 

Rekuperieren

Die Brembo-Bremsen legen ihre Backen gefühlvoll an und beissen bei Bedarf ohne zu viel Handkraft satt zu. Nicht zu vergessen ist die «Motorbremse», die bis zu einem gewissen Grad das zusätzliche Bremsen unnötig macht: Wie bei E-Fahrzeugen üblich verwandelt sich der Antrieb im Schiebebetrieb in einen Generator. Dieses Zurückgewinnen der Energie heisst bei Harley «Regenerationsfunktion». Nach unserer Erfahrung ist sie im Stadtbetrieb mit vielen Beschleunigungs- und Abbremsvorgängen bei insgesamt geringen Geschwindigkeiten tatsächlich wirkungsvoll. Hier lassen sich sicher einige Kilometer rausholen, was auf der Landstrasse nicht der Fall ist, da man selbst abwärts nie ausreichend lange nur rollt.

 

«Wie weit komme ich noch?»

Öfter als beim Benziner schiele ich auf die beiden Anzeigen für «Tank» bzw. Akkustand (in Prozent) und Reichweite. Das Gefühl «Ich kann noch weit fahren», hält lange an. Auch, da die eher konservative Restreichweitenanzeige sehr vertrauenerweckend ist: Sie springt nie plötzlich nach oben, um dann nach einem kräftigen Gasstoss wieder zusammenzusacken. Dennoch schwingt, als die Restreichweite unter 50 km sinkt, immer die Frage mit: «Wie weit komme ich noch?»

 

 

177 km sind doch was

Ich begebe mich in Heimnähe und drehe da noch eine kurvige Extrarunde. Auf dem Rückweg erscheint im Bildschirm: «Meldung! Low Charge» – bei 7 Prozent Akkuladung und 13 km Reichweite. Ich ziehe erneut kräftig am Kabel und wende vor der Heimortschaft sogar nochmals, um wenig später mit 1 Prozent Akku zurückzukehren. Nun fahre ich so lange im Flachen, bis die Anzeige auf 0 % und 0 km springt. Noch immer mit 50 im Verkehr mitschwimmend, entferne ich mich nun immer weniger weit von der wartenden Tiefgarage. Plötzlich nimmt die Beschleunigung spürbar ab, und oben im Display erscheint ein Schildkrötensymbol. Nach dem nächsten Stopp schafft die LiveWire nur noch 30 km/h, nach einem weiteren noch knapp 20 und dann ist der Akku leer. Fast! Der Saft reicht gerade noch, um das Bike – nach 177 km – unterstützt in die 200 Meter entfernte Garage zu schieben.

 

Es erstaunt mich, dass das Bike nach Aus- und neuem Einschalten keinen Wank mehr macht. Im Display heisst es nur: «Warten – Nicht bereit». «Zum Glück habe ich nicht schon vor Erreichen der Tiefgarage den Killschalter betätigt», schiesst es mir durch den Kopf. Aber jetzt muss ich ja nur noch einstecken…

 

«Das war ein echt heisser Ritt», denke ich mir. Ja, auch ohne das typische Harley-Bollern! Stattdessen begleitet einen ein neuer E-Harley-Sound (hauptsächlich erzeugt vom Antrieb, ganz ohne künstliche Beigabe). Das ist sehr authentisch und trägt wesentlich dazu bei, dass man eins wird mit der Strasse …

 

 

Fazit

Die LiveWire will die bisherigen Harley-Modelle nicht ablösen, sondern ergänzen. Sie ist ein cooles Bike für die sportliche, beinahe lautlose Feierabendrunde und durchaus auch fürs tägliche Pendeln. Eine typische Harley? Ja und nein. Man erkennt sie sofort als solche, doch fahrdynamisch bietet sie eine neue Welt. Kritikpunkte gibt es wenige. Der grösste ist ihr Preis. Doch der ist bewusst gesetzt. Die LiveWire soll nicht die Töffwelt elektrifizieren, sondern zeigen: Harley-Davidson kann auch das!

 

Info: harley-davidson.com

 

 

 

Review overview