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Motorrad trotz Handicap

Mit Handicap Motorradfahren? Das geht in vielen Fällen! Denn die Umbaumöglichkeiten sind vielfältig, selbst automatische Stützräder sind möglich…

Willi Költgen hat seit Geburt ein Handicap: ihm fehlt die rechte Hand. Doch bereits mit 14 schraubte er fleissig an Mofas herum. «Schliesslich musste ich mit meinen Kumpels mitziehen können, wenn es um die Mädchen ging», sagt er und lacht. Ging es an den ­Mofas noch recht simpel zu und her, waren fürs Motor­radfahren patentere Lösungen gefragt. Und, dass der heute 62-Jährige aus Krefeld am Niederrhein in Deutschland nach den Mofas auf grössere Maschinen umsteigen würde, war für ihn immer klar.

 

Mit Handprothese ist für Willi Költgen Motorradfahren möglich. Foto: Klaus H. Daams

Mit Handprothese ist für Willi Költgen Motorradfahren möglich. Foto: Klaus H. Daams

Motorradumbauten für Menschen mit Handicap

Nach mehrjähriger Erfahrung im Zweiradmechanikerbereich machte sich Willi Költgen 1991 selbstständig, um sich auf Motorradumbauten für Menschen mit Behinderung zu spezialisieren. Über 9000 Kunden mit Handicap hat die Költgen GmbH (koeltgen.de) in den letzten 30 Jahren wieder zu mehr Mobilität verholfen.

 

Willi Költgen wollte sich den Zweiradspass aufgrund seines Handicaps nicht nehmen lassen. Foto: Klaus H. Daams

Willi Költgen wollte sich den Zweiradspass aufgrund seines Handicaps nicht nehmen lassen. Foto: Klaus H. Daams

Hauptsächlich ging es dabei um Motorradumbauten. Aber Willi und sein Team aus Zweiradmechanikern, Maschinenbautechnik-Meistern, KFZ- und Elektroniktechnikern sowie ­Karosseriebauern rüsten auch Autos, Wohnmobile, Quads oder Landmaschinen um. «Es gibt keinen Tag, an dem mich nicht einer oder mehrere anrufen, die ­sagen: ‹Jetzt gehöre ich auch dazu.›»

Über die Landesgrenzen hinaus bekannt

Die hohe Zahl an Umbauten kommt auch dadurch zustande, dass die Költgen GmbH längst zu Deutschlands grösstem Betrieb für Handicap-Umbauten ­geworden ist und auch Anfragen aus dem Ausland an der Tagesordnung sind. Selbst der Touring Club Schweiz TCS verweist in seinem zuletzt 2014 aktualisierten Ratgeber «Uneingeschränkt mobil» auf die Költgen GmbH und schreibt: «Dem TCS sind keine ­Firmen in der Schweiz bekannt, welche sich auf den Umbau von Motorrädern spezialisiert haben.»

2 Rad Center Hofer in Meilen

Doch mit dem 2 Rad Center Hofer in Meilen am Zürichsee (hofer-2rad.ch) gibt es zumindest einen Betrieb in der Schweiz, der Motorrad- und Rollerumbauten für Menschen mit Handicap offiziell anbietet. Ernst Hofer: «Vor rund 15 Jahren fragte mich einer meiner Kunden nach einem Unfall, ob wir seinen Töff so umrüsten könnten, damit er sein Hobby weiter betreiben könne. Wir haben die spannende Herausforderung angenommen, und seither bieten wir solche Handicap-­Umrüstungen an.»

Bis heute haben Ernst und sein Team etwa 15 Umbauten vorgenommen. Einer von Ernsts aktuellen Kunden ist Henri Zol­linger aus der südlichsten Zürcher Gemeinde Hütten. Henri begann als junger Erwach­sener Motorrad zu fahren, pausierte in den Jahren, als seine Kinder klein waren. Danach nahm er sein ­Hobby wieder auf – mit seiner Frau als Sozia. «Im ­November 2012 bin ich mit der rechten Hand in die Schneefräse geraten. Seither fehlen mir vier Finger, der Daumen ist noch ganz. Nach einer Weile stellte ich mir die Frage: Wieder Töff fahren oder nicht? Dann ging ich zu Ernst Hofer.» Zusammen besprachen sie, was möglich wäre. Gasgeben mit der rechten Hand ging noch, aber der Vorderbremshebel war nicht mehr zu erreichen.

„Die richtige Entscheidung“

Henris Glück zu diesem Zeitpunkt war, dass er ­bereits vor dem Unfall von einer Honda Deauville auf eine Yamaha FJR 1300 AS gewechselt hatte. Durch ihr halbautomatisches Getriebe kommt sie ohne manuel­les Kuppeln und daher auch ohne Kupplungshebel aus, sodass an der linken Lenkerseite problemlos ein Vorderbremshebel angebracht werden kann. Der heute 63-jährige Henri sagt: «Am Anfang war es schon sehr gewöhnungsbedürftig, und ab und zu habe ich auch mal aus Versehen gebremst, weil ich den neuen Bremshebel als Kupplungshebel wahr­genommen hatte. Aber oft passierte das nicht. Die richtigen Abläufe haben sich schnell automatisiert.» Und Henri betont: «Es war die absolut richtige Entscheidung, trotz Handicap weiter Töff zu fahren.» Und auch seine Frau fahre nach wie vor gerne bei ihm mit – auf kleineren Ausfahrten wie auf grösseren Touren.

 

Henri Zollinger mit seiner Yamaha FJR 1300 AS.

Henri Zollinger mit seiner Yamaha FJR 1300 AS.

 

Vorgängige Abklärungen

Bevor ein Umbau wie dieser erfolgen kann, sind aber in jedem Fall einige Abklärungen zu treffen. ­Sowohl die Betroffenen mit Handicap als auch die mit der Umrüstung betraute Werkstatt müssen sich mit den zuständigen Behörden in Verbindung setzen ­(Details weiter unten). Henri ist der ganze Ablauf in guter Erinnerung geblieben: «Auf dem Strassenverkehrsamt Zürich-Albisgüetli habe ich viel Wohlwollen erfahren, vom ersten Kontakt bis zur Fahrprobe am Schluss, als ich dem Prüfer, der wie bei einer sons­tigen Fahrprüfung als Sozius mitfuhr, zeigen musste, dass ich die Maschine beherrsche. Und mit Ernst ­Hofer habe ich einen sehr kompetenten Fachmann an der Seite, der eine saubere Lösung realisierte und auch mit den Abläufen bestens vertraut ist.»

Neue Motivation

Ernst Hofer betont: «Unserem Werkstattchef und mir machen solche Projekte grossen Spass. Das Finan­zielle steht dabei nicht im Vordergrund. Material und Arbeit müssen zwar bezahlt werden, aber in diesen Fällen liegt unser Stundenansatz auf einem tieferen Niveau.» Je nach Projekt seien zwischen 1000 und 3000 Franken zu rechnen. Zeitintensiv seien in der Regel das Entwickeln einer Lösung, welche den Vorgaben des Strassenverkehrsamts entspricht, und die Materialbeschaffung.

Ernst Hofer hat grosses Verständnis für alle, die trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihres Handicaps Motorrad fahren wollen: «Wer Töff fährt, weiss, wie schön es ist. Und wer z.B. einen Arm verliert und dadurch auch psychisch einen Dämpfer erleidet, dem hilft ein motivierendes Hobby vielleicht mehr als 200 Tabletten. Dies ist ein Weg, seine Grenzen wieder zu erweitern. Schlimm ist es, wenn man Menschen sieht, welche die Motivation verloren haben, die nicht mehr wollen.»

Für jede Einschränkung eine Lösung

Willi Költgen sieht das genauso und so lautet sein Motto: «Wir finden für jede Mobilitätseinschränkung die passende Lösung. Um unsere Kunden mit unterschiedlichsten Behinderungen mobil zu halten, den maximalen Fahrspass und ein Höchstmass an Mobilität zu gewährleisten, kommen auch die ausgefallensten Lösungen zum Einsatz.» Eigens für Menschen mit Querschnittslähmung oder Amputationen wurde z.B. das F.B.S. (Feetless Biking System) entwickelt. Uneingeschränkten Motorradfahrspass bietet dieses adap­tive Aktivstützfahrwerk. Es kann während der Fahrt per Knopfdruck zu- und weggeschaltet werden und sorgt bei langsamer Fahrt sowie beim Anhalten für einen ­sicheren Stand des Motorrads. 1999 hat er das mit Druckluft arbeitende System patentieren lassen und bis heute mehrfach weiterentwickelt.

Willi Költgen zusammen mit anderen Motorradfahrern mit Handicap auf Pässetour.

Willi Költgen zusammen mit anderen Motorradfahrern mit Handicap auf Pässetour.

Doch auch Bremshebel und Kupplungshebel auf derselben Seite, auf Knopfdruck ausklappbare Seitenständer und vieles mehr gehören in der Költgen GmbH zum Tagesgeschäft. Für Umbauten ist hier im Schnitt mit rund 2000 Euro zu rechnen. Und das Abstimmen auf die Vorgaben der jeweiligen Behörden ist ebenso eine Selbstverständlichkeit.


Was ist betreffend Zulassung von Fahrzeugen und Führerschein zu beachten?

Wer in der Schweiz ein Fahrzeug an sein Handi­cap anpassen lassen bzw. ein umgebautes Fahrzeug lenken möchte, muss sich auch mit den zuständigen Behörden in Verbindung setzen. Wir haben stellvertretend beim Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich nachgefragt. Philipp Schenk, Leiter Mobilitätsbehinderung beim Strassenverkehrsamt Zürich-­Albisgüetli, sagt: «Der Wunsch nach Mobilität ist ein Grundbedürfnis. Mit dem eigenen Fahrzeug unterwegs zu sein, bedeutet für Menschen mit Mobilitätsbehinderung mehr Unabhängigkeit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Deswegen gibt es das Büro Mobilitätsbehinderung beim Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich. Wir sorgen dafür, dass sich unsere Kundinnen und Kunden mit ihrem Fahrzeug sicher und hindernisfrei bewegen können.»

Mehrstufige Abklärungen

Es empfiehlt sich, dass Interessierte die zuständige Behörde möglichst frühzeitig kontaktieren, weil die Abklärungen mehrstufig sind. Bei den ­Abklärungen führen speziell ausgebildete Verkehrsexpertinnen und Verkehrsexperten mit den Kunden vor Ort ein Gespräch über die körperlichen Einschränkungen im Alltag und testen im Rahmen einer sogenannten «Funktionskontrolle (Eignungsabklärung)» die Kraft und Beweglichkeit, das Reaktionsvermögen sowie die Treffsicherheit der Pedale bzw. Bedienelemente. Anhand dieser Funktionskontrolle können die Experten feststellen, ob und welche Änderungen am Fahrzeug nötig sind. Kommen die Fachleute zum Schluss, dass der Kunde das Fahrzeug mit entsprechendem Umbau lenken kann, stellen sie für ihn die persönliche Verfügung «Technische ­Anpassung Ihres Fahrzeugs» aus, anhand welcher Fachbetriebe die Umrüstung vornehmen können.

Was ist möglich

Die Umbauten sollen ein sicheres Führen von Fahrzeugen gewährleisten. Die Umbauten dürfen in bestimmten Fällen von den generellen Ausrüstungsvorschriften abweichen. Dies, soweit es die Betriebssicherheit gestattet (Art. 92 der Verordnung über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge (VTS). Zentral beim Thema Mobilität mit Handicap sind auch die Richtlinien Nr. 14 der Vereinigung der Strassenverkehrsämter asa.

 

Fahrzeugabnahme und Fahrprobe

Für Menschen mit Handicap umgerüstete Fahrzeuge müssen im Strassenverkehrsamt Zürich-Albisgüetli durch eine Verkehrsexpertin oder einen Verkehrsexperten des Büros Mobilitätsbehinderung abgenommen werden. Die Abnahme umfasst die Prüfung der Papiere (Umbaubestätigung/Fahrzeugausweis), die optische Überprüfung des Umbaus sowie eine Probefahrt mit Funktionskontrolle. Für die Fahrzeuge gilt danach der übliche Rhythmus für periodische Prüfungen. Diese können in allen Strassenverkehrsämtern durchgeführt werden. Denn sie sind nicht an den Zulassungskanton gebunden. Der Umbau selbst ­unterliegt keiner speziellen periodischen Prüfung durch die Behörden.

 

Neben dem Fahrzeug wird im Rahmen der ersten Abnahme auch die Person mit Handicap geprüft. In einer sogenannten Fahrprobe muss sie einmalig zeigen, dass sie in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu bedienen. In Zürich erfolgt diese Fahrprobe sowohl auf dem Prüfgelände als auch auf der Strasse. Neulenker legen eine reguläre Fahrprüfung ab.

Fahrerlaubnis

Menschen mit Mobilitätseinschränkung sind nach bestandener Fahrprobe auch berechtigt, andere Fahrzeuge zu lenken, wenn diese Fahrzeuge die Bedingungen (entsprechende Auflagen) erfüllen. Umgerüstete Fahrzeuge dürfen auch von Personen ohne Mobilitätseinschränkung gelenkt werden.

Töff in der Minderheit

Die Experten des seit rund 50 Jahren existierenden Büros Mobilitätsbehinderung in Zürich nehmen pro Jahr bei durchschnittlich 160 Personen Fahreignungsabklärungen (bei Autofahrern und Töfffahrern) –vor 2021 waren es 180. Die Zahl der effektiven Fahrzeugabnahmen liegt im Schnitt bei ca. 140 pro Jahr. Darunter befinden sich aber nur ein bis drei Motorräder.

Kosten

  • Theorieprüfung (Fr. 36.–)
  • Praktische Prüfung (Fr. 134.–) für Neulenker
  • Beurteilung des Arztzeugnisses, für Neulenker wie für Ausweisinhaber (Fr. 85.–)

Die Eignungsabklärung (Funktionskontrolle), die Abnahme des umgebauten Fahrzeugs und die Fahrprobe (bei Ausweisinhabern) sind kostenlos.

 


Weitere Infos zum Thema Motorradfah­­ren mit Han­dicap und andere Menschen mit Handi­­cap gibts auch auf ­einarmhelden.de und einbeinhelden.de. Zum dritten Mal ­ver­anstalten die Macher das «Ein­arm­helden & Einbein­helden»-Treffen – vom 11. bis 14. Au­­gust 2022 im Schwarzwald.

 

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