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Aprilia RS 660 im Fahrbericht

Aprilia RS 660

659 ccm, 100 PS, 183 kg, einstellbares Fahrwerk, Brembo Vierkolbenzangen und ein komplettes Elektronik-Paket – das sind die Eckdaten der neuen Aprilia RS 660. Wir konnten den kleinen Strassen-Sportler mit grossen Ambitionen in Italien bereits testen und sind sehr angetan.

Im November 2018 zeigte Aprilia auf der EICMA den ersten Prototypen der RS 660 und heimste damit riesiges Interesse unter den anwesenden Journalisten ebenso wie bei den Kunden ein. Kein Wunder, versprachen die Italiener doch ein Sportbike auf dem fahrdynamischen und elektronischen Niveau der grossen V4-Modelle aber mit einem komplett neuen Reihenzweizylinder und – natürlich – deutlich weniger Gewicht.

 

Nun, knapp zwei Jahre später, steht das Serienbike bereit. Ob die neue Aprilia RS 660 ihre Versprechen halten kann, haben wir in Schiavon, in der Nähe der Aprilia-Basis Noale getestet.

 

Aprilia RS 660

Die Aprilia RS 660 gibt’s ab Ende Oktober in drei Farbvarianten für 11’990 Franken. V.l.n.r. Acid Gold, Apex Black und Lava Red.

Wetterkapriolen

Die Präsentation kann dabei als spezieller Pressetest gewertet werden. Einerseits natürlich aufgrund von Covid-19 und den entsprechenden Einschränkungen, andererseits aber vor allem wegen des Wetters. Unser geplanter Fahrtag ist der Donnerstag, Anreise am Mittwochnachmittag. Blick aufs Wetter-App – na super! Genau für Donnerstag ist Dauerregen angesagt, vor- und nachher ist das Wetter gut, echt super.

 

Doch auch die Aprilia-Verantwortlichen haben sich die Wetterprognosen angeschaut und umgeplant. So kommen wir am Mittwoch kurz vor fünf Uhr in Schiavon an, und schon zehn Minuten später sitze ich auf der RS 660. Wir wollen die letzten Sonnenstunden nutzen, um einige gute Bilder zu schiessen und natürlich auch, um der neuen Aprilia bei trockener Fahrbahn etwas auf den Zahn zu fühlen.

 

Das ist zwar etwas hektisch, stellt sich am Donnerstag aber als absolut richtige Entscheidung heraus. Es regnet in der Region an diesem Tag nur einmal, und das nicht zu schwach. Zum Glück haben wir diese Kilometer am Abend noch unter die trockenen Räder genommen – das hat die RS 660 nämlich durchaus verdient.

 

Aprilia RS 660

Glücklicherweise konnten wir noch die letzten sonnigen Stunden nutzen.

Klein und doch gross

Die Aprilia RS 660 reiht sich in eine Kategorie von Bikes ein, die momentan von Maschinen wie der Triumph Street Triple RS und der KTM 790 Duke vertreten wird. Nein, ich habe nicht vergessen, dass diese beiden Naked-Bikes sind, und ich weiss auch, dass die RS 660 ein Sportler ist. Mit Kategorie meine ich hier denn auch nicht Naked-Bike, Sportler oder Enduro, sondern die Kategorie der Bikes, welche die Fahrwerks-, Brems-, und Elektronik-Komponenten der «Grossen» mit kleineren, etwas weniger brachialen Motoren verbinden.

 

Und davon gibt es (noch) relativ wenige. Meistens drehen die Hersteller an allen Schrauben gleichzeitig. Wird also der Hubraum kleiner und die Leistung niedriger, gibt’s auch weniger gute Federelemente, schwächere Bremsen und weniger ausgeklügelte Elektroniksysteme. Nicht so bei den oben genannten Bikes und eben auch nicht so bei der Aprilia RS 660.

 

Aprilia RS 660

Im farbigen TFT Display werden die Einstellungen vorgenommen – die RS 660 kommt mit dem vollen Elektronikpaket.

Ganz 100

Doch beginnen wir mit dem Motor. Dieser soll bei Aprilia die Basis für eine neue Modellfamilie bilden. Der 659 ccm grosse Reihenzweizylinder ist eine Neuentwicklung, übernimmt aber verständlicherweise haufenweise Technologie aus Aprilias bekannten und geliebten V4-Aggregaten. Durch einen 270° Hubzapfenversatz und der daraus folgenden Zündfolge imitiert der Reihenzweier den Sound eines 90°-V2-Motors – Aprilia bleibt dem V also immerhin ein kleines Bisschen treu.

 

Der neue Motor generiert 100 PS bei 10’500 Umdrehungen und 67 Nm Drehmoment bei 8500/min, wobei 80 % dieses Maximaldrehmoments bereits ab 4000/min anstehen.

Mittragend

Doch der neue Reihenzweier übernimmt in der RS 660 nicht nur die Antriebsaufgaben, sondern ist auch integraler Bestandteil des Chassis. So nimmt er sowohl den Frontrahmen als auch die Schwinge in sich auf, ist also tragendes Element. Dadurch, und durch viele weitere Details konnten die Aprilia-Ingenieure ein Gewicht (fahrfertig mit zu 90 % gefülltem Benzintank) von gerade einmal 183 Kilo erreichen.

 

 

Gefedert wird dieses Gewicht von einer voll einstellbaren 41-mm-Kayaba-USD-Gabel an der Front und von einem in Vorspannung und Zugstufe einstellbaren Federbein. Gebremst wird vorne mit zwei Brembo M4.32 Vierkolbenzangen, die sich in zwei 320-mm-Scheiben verbeissen und von einem radialen Brembo-Bremszylinder angesteuert werden. Hinten gibt’s eine Brembo Zweikolbenzange und eine einzelne 220er Scheibe.

Strassen jeder Art

Doch genug von der Technik und zu den Fahreindrücken. Aufgrund der eingangs erwähnten Wetterkapriolen fiel der Test dabei relativ kurz aus, liess mich aber dennoch einige gute Eindrücke gewinnen. Gefahren sind wir die RS 660 dabei auf italienischen Passsträsschen mit vielen engen, aber auch einigen weiteren Kurven. Der Untergrund gab sich dabei Italien-typisch sehr divers, von gutem, griffigem Asphalt bis hin zu mit Schlaglöchern durchzogenen Abschnitten war alles mit dabei.

 

Wir sind das Bike nur auf der Strasse, nicht auf der Rennstrecke gefahren. Und das passt zur Positionierung der RS 660 ganz gut. Denn die Aprilia ist kein reinrassiger Supersportler. Nicht in Sachen Motor und vor allem nicht in Sachen Sitzposition.

 

Zwar kommt sie mit Vollverschalung und Lenkerstummeln, doch sind diese deutlich höher angebracht als bei «echten» Supersportlern, etwa der Yamaha R6 oder der Kawasaki ZX-6R. Dadurch ergibt sich eine sportlich vorderradorientierte Sitzposition, die aber durchaus auch für den Strasseneinsatz sehr angenehm ist. Das ist von Aprilia so gewollt, die RS 660 soll auf der Strasse daheim sein und für den einen oder anderen Trackday taugen, nicht umgekehrt.

Wendig und doch stabil

In den Kurven gibt sich die leichte Italienerin sehr wendig und verspielt, wirkt aber trotzdem nie kippelig oder nervös. Das Grundsetup der Federelemente bildet einen guten Kompromiss und funktioniert so sowohl bei gutem als auch bei schlechtem Untergrund ausgezeichnet. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob der Einstellungsspielraum denn genügend gross ist, um auch für den Trackday die passende Einstellung zu finden. Auf der Strasse passt’s aber schonmal sehr gut.

 

Auch die Bremsen machen einen soliden Job. Sie besitzen nicht einen ganz so starken Initialbiss wie beispielsweise die M50- oder die Stylema-Zangen, sind aber hervorragend dosierbar und packen bei Bedarf mit etwas Nachdruck auch richtig ordentlich zu.

 

RS 660

Auf kurvenreichen Landstrassen fühlt sich die RS 660 wohl.

Fragezeichen

Aprilia hat es also erneut geschafft, ein Bike hinzustellen, das fahrdynamisch überzeugen kann, bleiben nur noch zwei Fragezeichen: Sind 100 PS für sportliches Fahren genug? Und: Was bringt das ganze APRC-Elektronikpaket?

 

Die erste Frage ist dabei ziemlich schnell beantwortet: Ja. Zumindest für all diejenigen, die auf der Strasse und in einigermassen legalen Tempobereichen unterwegs sind. Der neue Reihenzweier dreht sehr schön hoch, bietet lineare Leistungsentfaltung und schiebt die RS 660 im richtigen Drehzahlbereich rasant zum nächsten Bremspunkt.

 

Natürlich ist die Gangwahl bei 100 PS und 67 Nm entscheidender als bei 175 PS und über 100 Nm. Durch den hervorragenden serienmässigen Blipper zum Kupplungsfreien Hoch- und Runterschalten, avancieren Schaltvorgänge aber sowieso von der Pflicht zur Kür.

Sicherheit und Speed

Frage Nummer zwei lässt sich heruntergebrochen ähnlich schnell beantworten: Sicherheit und Speed. Wobei hier etwas mehr Diskussionsstoff besteht. Viele – gerade erfahrene – Piloten mögen der Meinung sein, bei lediglich 100 PS brauche man keine Traktions- und schon gar keine Wheelie-Kontrolle. Das mag sogar stimmen, und doch bin ich grosser Fan dieser Systeme, auch bei Mittelklasse-Bikes. Und zwar weil sie Einsteigern – oder auch Profis, beispielsweise bei schlechten Bedingungen – deutlich mehr Sicherheit geben, vor allem aber, weil sie so ausgelegt sind, dass sie geübte Piloten sicher schneller machen, ohne den Fahrspass in irgendeiner Form zu schmälern.

 

So können bei der Aprilia RS 660 alle Parameter, das heisst Kurven-ABS, Traktionskontrolle, Wheeliekontrolle, Motorbremskontrolle und Motormapping im richtigen Modus individuell eingestellt werden. So finden auch Profis eine Abstimmung, die sie nicht behindert, sondern mit 99 prozentiger Wahrscheinlichkeit schneller macht. Im Racemodus «Time Attack» lässt sich – das nur als kleines Beispiel – das ABS am Hinterrad komplett sowie die Kurvenfunktion am Vorderrad ausschalten. Wer seine RS 660 auf der Strecke also quer in die Kurve stellen möchte, kann auch das.

 

Neben den beiden frei einstellbaren Modi – «Individual» für den Strasseneinsatz und «Time Attack» für die Strecke – gibt’s noch zwei voreingestellte Strassen-Modi, sowie einen voreingestellten Strecken-Modus, zwischen denen mit nur einem Klick gewechselt werden kann.

 

Heckabdeckung RS 660

Die hübsche Sozius-Abdeckung ist aufpreispflichtig.

Fazit

Aprilia hat seine Versprechen gehalten. Die RS 660 ist ein Mittelklasse-Bike, das in Sachen Fahrdynamik und Elektronik mit den «Grossen» absolut mithalten kann. Durch die weniger extreme Sitzposition ist sie zudem eines der bequemsten Vollverschalten Bikes, das ich in den letzten Jahren gefahren bin und macht so auf der Strasse unglaublich viel Spass. Jedem, der keine 150 PS braucht, auf der Strasse aber trotzdem gerne sportlich unterwegs ist, kann ich eine Probefahrt der neuen Aprilia RS 660 nur ans Herz legen.

 

Einziges Fragezeichen, das mir noch bleibt, ist, ob die RS 660 auf dem Track wirklich auch so eine gute Figur macht, wie dies Aprilia verspricht. Aber das wird sich nur an einem zukünftigen Trackday mit der RS 660 evaluieren lassen.

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