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Aprilia Tuono 660 Test – Klassenlos

Aprilia Tuono 660 Test

Die Aprilia Tuono V4 gilt unter Journalisten seit Jahren als eines der besten Power-Naked-Bikes schlechthin. Auch viele Kunden sind fasziniert vom heissen Naked-Bike. Doch die V4 ist fordernd – und teuer. Nun bringen die Italiener eine zugänglichere kleine Schwester: die Aprilia Tuono 660. Wir durften die neue „Baby-Tuono“ in Italien bereits testen.

Unsere heutige Test-Kandidatin, die Aprilia Tuono 660 ist das zweite Bike der neuen Aprilia-Modellfamilie mit dem 659 ccm grossen Reihenzweizylinder-Motor. Bereits letzten Herbst machte ihre vollverschalte Schwester RS 660 den Anfang und vermochte uns im Test durchaus zu überzeugen. Während Sportler am Markt aber klassischerweise vergleichsweise schlecht laufen, und die Konkurrenz auch dementsprechend klein ist, begibt sich die Tuono 660 mitten in eines der erfolgreichsten und umkämpftesten Segmente am Markt.

 

Aprilia RS 660

Die vollverschalte Schwester RS 660 durften wir schon im vergangenen Herbst erstmals fahren.

 

Doch Moment, welchem Segment ist die neue Aprilia Tuono 660 denn überhaupt zuzuordnen? Den Naked-Bikes der unteren Mittelklasse, wie Yamaha MT-07 oder Kawasaki Z650? Oder doch eher den Naked-Bikes der oberen Mittelklasse mit Vertretern wie der KTM 890 Duke oder der BMW F 900 R? Macht man die Einteilung gemäss Hubraum ist’s klar: Die Tuono 660 ist ein Naked-Bike der unteren Mittelklasse. Logisch – ist ihr Hubraum doch quasi identisch, wie der einer Z650 oder einer MT-07.

 

Doch so einfach ist es nicht. Die Tuono 660 hat zwar weniger Hubraum als die Konkurrenz aus der oberen Mittelklasse, in Sachen Fahrwerk, Elektronik und auch Preis (ab 11’990 Franken) gehört sie aber ganz klar in eine Kategorie mit den MT-09s dieser Welt. Mit einer Spitzenleistung von 95 PS – damit sie auf 35 kW gedrosselt werden darf – kann sie da Power-mässig natürlich nicht ganz mithalten, das ist aber eigentlich nicht weiter tragisch – warum besprechen wir gleich.

 

Aprilia Tuono 660 Test

Untere Mittelklasse? Das lässt die Aprilia Tuono 660 so nicht auf sich sitzen.

Gleich und doch anders

Beginnen wir nun aber zunächst einmal mit der Technik. Natürlich wurde die Tuono 660 nahe an der RS 660 entwickelt. Und doch gibt’s einige deutliche Unterschiede. Erstens leistet sie etwas weniger Spitzenleistung – wie gesagt aufgrund der Führerscheinregelungen. Zweitens verfügt sie über einen steileren Lenkkopfwinkel und dadurch einen kürzeren Radstand. Zusammen mit dem Rahmen, der sich vorne jetzt nur noch an zwei statt drei Punkten am Motor abstützt und dadurch für weniger Steifigkeit und einfacheres Einlenken sorgen soll, führt dies zu einem (noch) agileren Handling.

 

Ein weiterer Unterschied findet sich bei der Elektronik: Auch die Tuono 660 kommt mit dem kompletten APRC-Elektronikpaket inklusive ABS, Traktions-, Wheelie-, Launch- und Motorbremskontrolle sowie einem Tempomaten. Aber im Vergleich zur RS 660 kommt sie nicht standardmässig mit einer IMU, ihre Systeme sind also nicht schräglagenabhängig. Zum Glück gibt’s die IMU aber im Zubehör – Preise sind dabei leider noch nicht bekannt, laut unseren Kontakten in Italien sollte dieses Update aber irgendwo um die 500 Franken-Marke liegen – ein Preis, zu dem ich jedem nur empfehlen kann, diese Zubehörbox anzukreuzen.

 

Aprilia Tuono 660 Display

Im TFT-Display werden die verschiedenen Modi angezeigt. Alle Assistenzsysteme können individuell eingestellt werden.

 

Das sieht wohl auch Aprilia so, denn bei unserem Test im südlichen Umland von Rom kam keine einzige Tuono 660 ohne IMU und den ebenfalls optionalen Quickshifter zum Einsatz, weshalb sich natürlich auch alle Fahreindrücke in diesem Bericht auf die Tuono 660 mit IMU und Quickshifter beziehen. Wobei sich letzterer natürlich bedeutend einfacher wegdenken lässt als der Einfluss, den eine IMU auf die Assistenzsysteme hat.

 

Aber weiter mit der Technik und dabei zum Fahrwerk. Die USD-Gabel der Tuono ist in Federvorspannung und Zugstufen-Dämpfung einstellbar, beim Zentralfederbein ist die Federvorspannung einstellbar. Gebremst wird mit Brembo Vierkolbenzangen (M4.32), die sich in zwei 320-Millimeter-Scheiben verbeissen.

 

Wiegen tut das ganze Paket fahrfertig leichte 183 kg. Dank grossem Lenkeinschlag und moderater Sitzöhe von 820 mm sollte die Tuono also auch Einsteiger nicht überfordern.

Ruckelfrei

Doch genug der trockenen Zahlen und dazu, wie sich die neue Baby-Tuono fährt. Das durften wir auf einer ausgiebigen Testfahrt in den Hügeln südlich von Rom unter die Lupe nehmen. Bei rund 10 Grad und vielen Salzresten auf den sich sowieso in desolatem Zustand befindlichen Strassen, haben wir der Tuono 660 ordentlich die Sporen gegeben. Viele Kurven und noch mehr Bodenwellen, Schlaglöcher und Rollsplit verlangten vor allem dem Fahrwerk der neuesten Schöpfung aus Noale alles ab. Und kommt die Tuono 660 dabei ins Schwitzen? Nö. Die kleine Italienerin meisterte auch diese schwierigen Bedingungen mit Bravour.

 

Wobei das Lob dafür natürlich auch der Elektronik gebührt. Ich höre immer wieder, die Aprilia-Elektronik sei nicht ausgereift. Und darum achte ich mich bei Aprilias immer besonders darauf – kann aber nie etwas finden, was dieses Vorurteil unterstreichen würde. Gerade die schräglagenabhängigen Systeme – die stammen ursprünglich natürlich aus der Rennmaschine RSV4 – arbeiten hervorragend. Die Traktionskontrolle greift ein – das sieht man am Blinken im Display – stört dabei aber genausowenig, wie das sehr fein agierende Kurven-ABS oder die Wheelie-Kontrolle. Das gibt Sicherheit, auch auf schlechten Strassen. Und Sicherheit führt zu einer entspannteren Fahrweise, was wiederum mehr Sicherheit schafft.

 

Motorrad

Auch mit schlechten Strassen kam die Tuono 660 erstaunlich gut zurecht.

„Stop and Go“

Auch die Bremsen machten auf unserer Tour einen super Job. Der Anfangsbiss ist nicht zu aggressiv, dafür lassen sich die Brembos absolut fein dosieren und liefern am stufenlos einstellbaren Bremshebel jederzeit klares Feedback.

 

Und der Motor? Auch der vermochte auf dieser Testfahrt durchaus zu überzeugen. Gerade wenn’s eng und kurvig ist, lässt er nie Leistung vermissen. Bei den Aprilia-Präsentations-typischen Zwischensprints wird dann aber schon klar, dass man es hier mit «nur» 95 PS und nicht mit deren 120 zu tun hat. Fürs sportliche Kurvenwetzen reicht’s aber absolut – vor allem, wenn man sich an Schweizer Tempolimits hält.

 

Und irgendwie fühlt sich dieser Motor an, als hätte er mehr Power als die angegebenen 95 PS und 67 Nm. Dazu trägt natürlich auch das tiefe Gewicht und die relativ kurze Übersetzung sowie die üppige Soundkulisse bei. Und doch hätte ich mir gewünscht, dass Aprilia statt einer 660er eine 880er gebaut hätte. Einfach weil dieses Paket locker auch mit 20 Pferden mehr zurechtkommen würde. Rein objektiv sind 95 PS aber absolut ausreichend.

 

Motor Motorrad

Zwei Zylinder, 659 ccm Hubraum, 95 PS und 67 Nm – das die nackten Zahlen dieses emotionalen Aggregats.

Details

Damit dieser Bericht nun aber nicht zur Lobhudelei verkommt, gibt’s jetzt doch noch etwas Kritik. Der Kupplungshebel ist nicht einstellbar, die Aprilia-Logos auf dem Tank sind mittels nicht überlackierten Klebern angebracht. Das ist schade, gerade bei einem Preis von knapp 12’000 Franken… Auch bin ich der Meinung, dass bei einem Bike wie der Tuono 660 die IMU ins Standardpaket gehören würde – wobei dieses Problem bei der Bestellung ja schnell gelöst werden kann.

Würdige Konkurrentin

Kommen wir also zum Fazit: In unserem Test hat sich gezeigt, dass die Aprilia Tuono 660 ein hervorragendes Naked-Bike der (oberen) Mittelklasse ist, das sich trotz Leistungs-Manko sicherlich nicht vor der Konkurrenz verstecken muss. Und genau darum hoffe ich, dass die Interessenten, die sich in dieser Klasse umschauen, auch der kleinen Italienerin eine Chance geben und sie zumindest mal testen werden; auch wenn sie – Leistungsmässig – nicht ganz 100 hat.

 

Aprilia Tuono 660

Im engen Geläuf fühlt sich die Aprilia Tuono 660 deutlich wohler als ihre grosse V4-Schwester.

Review overview